Helga Sophia Goetze
IN WIRKLICHKEIT INTERESSIERT MICH DIE KUNST NICHT …
Primäre Tabubrüche, Papierarbeiten, Texte

 


Helga Goetze: Frauenleben, Gouache / Papier, 45×62 cm, 1977

 

(english version see below)

Eröffnung: Fr 08.09., 19h
Ausstellung: 09.09.–24.09. – Mi–Sa 15 – 19 h
Lange Helga-Goetze-Nacht: Fr. 15.09., ab 19 h
Gedichte, Aufzeichnungen, Erinnerungen, Musik, Filme mit
Rosa von Praunheim, Burkhard Driest, Mona Mur & Gerhard A. Schiewe
und weiteren Gästen

 

Die berühmt-berüchtigte Helga Sophia Goetze hat seit Beginn der achtziger Jahre ein gewaltiges, faszinierendes Universum von gemalten Bildern, gestickten Teppichen sowie tagtäglicher schriftlicher Aufzeichnungen geschaffen. Bekannt-berüchtigt war Helga Sophia Goetze jedoch eher für ihre „Mahnwache“ an der Berliner Gedächtniskirche. Dort stand sie über 20 Jahre täglich eine Stunde, um ihre Botschaft zu verkünden: „Ficken macht friedlich“ – „Ficken ist Frieden“.

„In Wirklichkeit interessiert mich die Kunst nicht. Was im Grunde mich bewegt ist das Leben, wie es sich formt, immer fließend“. Ein Aufenthalt 1973 bei der AAO Kommune auf dem Friedrichshof des Otto Muehl hat sie zum Malen gebracht.

Im Rückblick beschreibt sie diesen Moment:
„Ich war im Sommer Gast auf dem Friedrichshof. Dort wurde viel gemalt – sitzend in der Landschaft – und ich wusste nicht, wie man das macht. Wiese grün, Himmel blau. Voller Erstaunen sah ich die versunken Malenden: Lila, orange, rot, braun, gelb an Stellen, wo ich das überhaupt nicht sah. Und plötzlich wollte ich DAS auch. Ich holte mir eine schwarz-weiß Fotografie STURM IM MOOR von Nolde und malte das ab. Die Birken am Wegrand sind eigentlich schon ganz schön – finde ich“.

Helga Goetze hat ca. 3.000 Gedichte verfasst. Diese und die über 30.000 maschinengeschriebenen DIN A 4 Seiten mit tagtäglichen Aufzeichnungen über ihre Erlebnisse sind ein unschätzbares Sittengemälde unserer Zeit.

Die ZWITSCHERMASCHINE zeigt erstmalig eine Show von großformatigen, farbigen Papierarbeiten, die Helga Goetze im Laufe von über 10 Jahren hergestellt hat und die zum Teil als Vorlage für ihre späteren Stickarbeiten dienten. Von 1983 bis zu ihrem Tod 2008 sind ca. 250 Bildteppiche entstanden.

 

Helga Goetze wurde 1922 in Magdeburg geboren, sie wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Mit 20 Jahren, 1942, heiratete sie einen zwölf Jahre älteren Mann. Von Magdeburg zog das Paar 1949 nach Hamburg, wo Kurt Goetze bei einer Bank angestellt war. Sie hatten gemeinsam sieben Kinder – fünf Mädchen und zwei Jungen. Die Ehe funktionierte so lange, bis Helga bei einem Urlaub auf Sizilien mit Einverständnis ihres Mannes eine Nacht mit Giovanni, einer gemeinsamen Urlaubsbekanntschaft, verbringen durfte. Nach dieser Erfahrung brach sie aus ihrem bürgerlichen Hausfrauendasein aus. Sie lebte in Hamburg in einer WG mit freier Sexualität und Gemeinschaftseigentum, schrieb ein Buch: „Die Hausfrau der Nation – oder Deutschlands Supersau“, bekam sehr viel – auch international – Aufmerksamkeit mit ihren provokanten Auftritten, Theorien und Gedichten, wurde in Talkshows eingeladen und war 1976 „der Skandal des Jahres“, als sie sich im TV nackt auszog. „Wofür soll ich mich schämen? Mein Körper ist meine Kirche, durch den fühle und atme ich.“

1978 zog Helga Goetze nach Berlin-Kreuzberg. Anfangs stand sie am Eingang der TU Mensa, hielt den Menschen kleine Zettel mit ihren Botschaften hin, bzw. hatte diese in Form von selbstgemachten Schildern um ihren Hals gehängt. Rosa von Praunheim drehte den Film „Rote Liebe“, in der sie die Hauptrolle spielt, und der nach wie vor zu den meistgespielten Filmen von Praunheims zählt. Von 1983 bis kurz vor ihrem Tod hatte sie ihren Platz an der Gedächtniskirche. Von dort rief sie den Passanten zu: „Ficken/lieben – Der Orgasmus der Göttin ist Frieden“, „Wer nimmt die Sexualnot der Jünglinge und die der Frauen über 30 wahr?“. Von 1982 bis zu ihrem Tod am 29. Januar 2008 wohnte sie in Charlottenburg in der Schlüterstraße 70, Gartenhaus. An der Hausfassade hatte sie mit Zustimmung des Hausbesitzers eine Messingtafel anbringen dürfen: Helga Sophia Goetze, Geni(t)ale Universität, Lehre und Forschung, tägl. geöffnet von 17 bis 19 Uhr. Selten fanden sich Neugierige, Interessierte, die sich in ihr privates Reich trauten. Aber es gab sie. Freunde gründeten in den 90ger Jahren einen Verein: Metropole Mutterstadt. Dieser Verein pflegt den Nachlass. Die schriftlichen Aufzeichnungen hat der Verein dem feministischen Archiv FFBIZ übergeben, ein Großteil der Stickereien betreut der Verein, die Papierarbeiten hat Helga Goetze Karin Pott überlassen, damit diese sie „in die Welt bringt“.

Die frühen Papierarbeiten von Helga Goetze werden in der Zwitschermaschine erstmals in diesem Umfang gezeigt.“

Kuratiert von Karin Pott.

 

 

Helga Sophia Goetze – Ausstellungen (Auswahl):

1989 ICC, Gewerkschaftstag der IG Metall, Ausstellung der Arbeiten zum IG-Metall Kunstpreis.
Ihre Arbeit ist Titelmotiv des Katalogs.

2006 Haus am Lützowplatz, Studio Galerie „Was ist eine Frau?“

seit 2007 – fünf bedeutende Bildteppiche in der ständigen Ausstellung der „Collection de l’Art Brut“, Lausanne

2008 Museum im Lagerhaus, St. Gallen, Schweiz, „Die Collection de l’Art Brut trifft das Museum im Lagerhaus“

2008 Infernoesque, Projektraum, Berlin, „FICKEN LIEBEN FRIEDEN“

2008-2009 Galerie SEPTEMBER, Berlin, „New Omega Workshops“

2009 Complesso Museale Santa Maria della Scala, Siena, Italien, Arte Genio Follia, „Il Giorno e la Notte dell‘ Artista.

2010 Museoteatro della Commenda di Pre, Genua, Italien, “ Noi, quelli della parola che sempre cammina“.

2010 Slovak National Gallery, „insita 2010“

2012 Galerie Wonderloch Kellerland, Berlin „Du bist die primäre Tabubrecherin“

 

Karin Pott, Kuratorin,
war nach dem Studium an der Hochschule der Künste Berlin als freischaffende Künstlerin tätig, bis sie 1992 die Künstlerische Leitung vom Haus am Lützowplatz übernahm und bis 2013 inne hatte.

 

 

Helga Sophia Goetze
IN REALITY I DO NOT CARE FOR THE ARTS …
Primäre Tabubrüche, Works on Paper, Words

 

Opening: Fri 08.09.2017, 7pm
Exhibition: 09.09.–24.09.2017 – Wed–Sat 3 – 7pm
Helga-Sophia-Goetze-Special: Fr. 15.09.2017, from 7pm –
Films, Poems, Memories, Music – with Rosa von Praunheim and guests

 

The infamous Helga Sophia Goetze has since the beginning of the eighties created a huge, fascinating universe of painted pictures, embroidered carpets as well as daily written notes. Notoriously, however, Helga Sophia Goetze was more likely for her “ solemn vigil“ at the Berlin Gedächtniskirche. There she stood for more than 20 years an hour every day to announce her message: „Fucking is peaceful“ – „Fucking is peace“.
„In fact, art does not interest me. What basically moves me is life as it shapes, always flowing. “ Her stay in 1973 at the AAO Commune of Otto Muehl at the Friedrichshof has brought her to painting.
In retrospect she describes this moment:
„I was a guest at the Friedrichshof in the summer. Everybody was painting – sitting in the countryside – and I did not know how to do that. Meadow green, sky blue. I was amazed to see the absorbed painters: purple, orange, red, brown, yellow in places where I did not see it at all. And suddenly I wanted THAT too. I took a black and white photograph STURM IM MOOR of Emil Nolde and portrayed it. The birches along the way are actually quite beautiful – I think „.
Helga Goetze wrote about 3,000 poems. These and the over 30,000 machine-written A 4 pages with daily recordings of her experiences are an invaluable genre picture of our time.
The ZWITSCHERMASCHINE is showing for the first time a show of large-format coloured works on paper, produced by Helga Goetze in the course of more than 10 years, and which partly served as a template for her later embroidery work. From 1983 until her death in 2008, approx. 250 pieces of tapestry were created.

Helga Goetze was born in Magdeburg in 1922. She grew up in middle-class conditions. At the age of 20, in 1942, she married a twelve-year elder man. From Magdeburg, the couple moved to Hamburg in 1949, where Kurt Goetze was employed at a bank. They had seven children – five girls and two boys together. The marriage worked so long until Helga and Kurt were spending their holidays in Sicily where Helga with her husband’s consent, spent one night with Giovanni, a mutual acquaintance. After this experience she broke out of her bourgeois life as a housewife. She lived in Hamburg in a shared flat with free sexuality and community ownership, wrote a book: „The Housewife of the Nation – or Germany’s Supersau“, got very much – also international – attention with her provocative performances, theories and poems, was invited into talkshows and became the „Scandal of the Year“ in 1976, when she dressed naked on TV. „What should I be ashamed of? My body is my church, through which I feel and breathe. “
In 1978, Helga Goetze moved to Berlin-Kreuzberg. At first she stood at the entrance of the TU Mensa, holding small notes with her messages, or hanging them around her neck in the form of self-made signs. Rosa von Praunheim shot the film „Rote Liebe“, in which she plays the leading role, and it is still one of the most acclaimed films of Praunheim. From 1983 until shortly before her death she had her place at the Gedächtniskirche. From there she addressed the passersby: „Fuck / love – The orgasm of the goddess is peace“, „Who perceives the sexual need of the youths and those of the women over 30?“. From 1982 until her death on 29 January 2008, she lived in Charlottenburg at Schlüterstraße 70, Gartenhaus. On the facade of the house, with the consent of the owner of the house, she was allowed to put on a metal plate: Helga Sophia Goetze, Geni(t)ale University, teaching and research, open daily from 5 to 7 pm. There have been only few curios coevals, who had the heart to visit her in her private realm – but there were. Friends founded an association in the 90s: Metropole Mutterstadt. This association maintains the inheritance of Helga Sophia Goetze. The association has handed over the written records to the feminist archive FFBIZ, the association itself takes care of most parts of embroideries, Helga Goetze herself has committed her works on paper to Karin Pott so that she can „bring it into the world“.
On this scale the early works on paper of Helga Goetze will be shown for the first time in the ZWITSCHERMASCHINE.

 

Curator Karin Pott.

 

Karin Pott has been a freelance artist after studying at the Berlin University of the Arts. In 1992 she took over the artistic direction of Haus am Lützowplatz and held this position until 2013.